Kunstgeschichten

Entdecken Sie in der Rubrik Kunstgeschichten abwechslungsreiche Essays zu verschiedensten Kunstwerken aus unseren umfangreichen Sammlungsbeständen.

In Stein gemeißelt?

Werkstatt des Pietro Lombardo (um 1435–1515), Doppelporträt, Venedig, um 1495/1500, Marmor. Kunsthistorisches Museum Wien, Kunstkammer, Inv.-Nr. KK 8896

Auf dieses Werk aufmerksam gemacht hat mich Andreas Brunner, Historiker und Leiter des Archivs QWIEN – Zentrum für queere Geschichte. Es reiht sich ein in eine Vielzahl von historischen Objekten, deren queere Dimensionen von der Forschung und Geschichtsschreibung lange Zeit ignoriert oder unter den Teppich gekehrt wurden. Gleichzeitig zeigt sich an Stücken wie diesem, dass Formen des Begehrens und von Beziehungen, die sich jenseits einer traditionellen und heteronormativen Kultur abspielen, schon immer Teil der Gesellschaft waren – so wie sie es heute immer noch sind.

Auf dem Marmorrelief, das wahrscheinlich um 1495/1500 in der Werkstatt von Pietro Lombardo in Venedig entstanden ist, sehen wir zwei Männer im Profil, auf Augenhöhe und mit direktem Blick in die Augen des jeweils Anderen. Die beiden Männer, ein älterer und ein jüngerer, tragen an die Antike erinnernde Gewänder, aber zeitgenössische venezianische Frisuren und Kopfbedeckungen. Trotz der Ausarbeitung als Flachrelief sind die Texturen, Hautfalten, Haare und Kleidungsstücke sehr sorgfältig beobachtet und detailliert wiedergegeben, sodass die beiden Köpfe plastisch und natürlich wirken. Vorbilder für derartige Darstellungen, die besonders in der venezianischen Bildhauerkunst um 1500 auftauchen, fand man wohl in antiken Gemmen und Münzen, die häufig zwei einander zugewandte Personen im Profil zeigen.

Wir wissen nicht mit absoluter Sicherheit, wer die beiden Männer sind, die sich auf diesem Relief so intensiv in die Augen blicken. Lange Zeit wurde dieses Objekt entweder als Doppelporträt des Malers Gentile Bellini und seines Bruders Giovanni gesehen, oder aber als exemplarische, idealisierte Figuren, die den Gegensatz von Jugend und Alter verkörpern. Mittlerweile geht die Forschung jedoch davon aus, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um den Maler Giovanni Bellini und seinen jüngeren Geliebten handelt. Die Schönheit dieses jungen Mannes wurde damals von mehreren Dichtern besungen, unter anderem von Girolamo Priuli und Bartolomeo Fuscus. Erhaltene Zeichnungen mit Darstellungen von Bellini sowie eines jungen Mannes erlauben eine Zuordnung zu den beiden Männerprofilen in Marmor.

Es gibt in dem Relief auch einige Hinweise, die uns Aufschluss über Gesellschaft und Sexualität im Italien der Renaissance geben. Der direkte Blick in die Augen des Gegenübers kann als Zeichen der gegenseitigen Liebe gesehen werden, schreiben doch Theologen und Philosophen wie Masilio Ficino in dieser Zeit über die infektiöse Wirkung des Blickaustauschs, durch den eine Ansteckung mit der Krankheit der Liebe entstehen kann. Gleichzeitig bilden die beiden Dargestellten durch ihre Blickbeziehung eine geschlossene Einheit, die keinen Kontakt mit den Betrachter*innen aufnimmt und diese ausschließt. Die Bedeutung des Blicks für die Liebe ist auch ein Thema im Phaidros, einem fiktionalen Dialog des antiken Philosophen Platon, der sich in der Renaissance äußerster Beliebtheit erfreute und Philosophie, Kunst und Literatur beeinflusste.

Handelt es sich bei Lombardos Relief und seiner Geschichte vielleicht um eine Ausnahmeerscheinung in der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts? Zahlreiche Quellen, Gerichtsakten, Gedichte, Briefe und Kunstwerke belegen das Gegenteil. Auch wenn die Begrifflichkeiten im 15. und 16. Jahrhundert andere waren und die sexuelle Orientierung nicht als Teil der Identität einer Person gesehen wurde, so wie das heute der Fall ist, heißt es dennoch nicht, dass es variantenreiche Formen der Sexualität und Liebe nicht gegeben hat. Eine wichtige Quelle stellen beispielsweise die Akten der ufficiali di notte, der Sittenpolizei in Florenz, dar, die belegen, dass gleichgeschlechtliche Sexualität im 15. Jahrhundert keine Ausnahme darstellte, sondern vielmehr allgegenwärtig war. Verfolgt wurden allerdings nur Männer, die bei gleichgeschlechtlichen erotischen Aktivitäten ertappt wurden. Das Leben der Frauen spielte sich weitgehend im Privaten ab und wurde so weniger in den Fokus genommen, sodass sich die Quellenlage hier ungleich schlechter darstellt.

Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss der Antike, die als absolut vorbildhafte Epoche für Kunst und Kultur der Renaissance in Italien galt. Antike Literatur wie Platons Phaidros wurde gelesen, kommentiert und diskutiert. Sie gibt Aufschluss darüber, dass die homoerotische Liebe unter Männern als ein Idealbild gesehen und auch weithin praktiziert wurde. Eine übliche Konstellation war dabei die Beziehung zwischen einem älteren, erfahreneren und einem jüngeren Mann, für den der Ältere auch die Funktion eines Lehrers einnahm. In der humanistisch gebildeten Oberschicht des 15. und 16. Jahrhunderts finden wir diese Art der Beziehung ebenfalls häufig und es liegt nahe, die beiden Dargestellten auf dem Lombardo-Relief mit seinen deutlichen Anspielungen auf antike Mode und Ästhetik in diesem Zusammenhang zu sehen.

Für mich stellt dieses Relief und seine Geschichte auch einen Appell dar, den Blick für die Vielfalt menschlicher Sexualität, von Begehren und Liebe, die immer Teil der Gesellschaft war, zu öffnen, die Geschichte/n queerer Menschen zu bewahren und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Larissa Kopp ist Künstlerin und Kunstvermittlerin am Kunsthistorischen Museum. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind das Hinterfragen von Normen und tradierten Wahrnehmungsmechanismen, kollaborative Prozesse sowie das Entwickeln und Durchführen neuer Zugänge und Formen der Kunstvermittlung für ein diverses Publikum.

geschrieben von Larissa Kopp am 10.5.2022 in #Vielfalt im Fokus
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