DATENWERK: MENSCH
das portrait – genealogie & genetik von richard kriesche
jedem portrait liegt die erfassung und beschreibung eines einzelnen menschen zu grunde. zugleich enthält das portrait jedoch auch eine beschreibung einer epoche, ein bild der menschheit, das um vieles bedeutungsvoller als das einzelbildnis ist. unsere epoche ist geprägt, und das sollen die „genetischen portraits“ zu erkennen geben, von der strukturellen verankerung der kultur in der natur und damit des menschen in den kleinsten schreib- und lesezeichen des lebens. diese universale gemeinsamkeit alles lebendigen nachgewiesen und sichtbar gemacht zu haben, ist ein verdienst der naturwissenschaften, respektive der molekularbiologie. sie hat damit unser verständnis des lebens an der zentralen schnittstelle zwischen kultur und natur verändert und unser bisheriges verständnis von kunst radikal infrage gestellt.
rückblick: richard wagners ziel, die einheit der künste auf der kunstästhetisch zeitlichen ebene in form des gesamtkunstwerks sinnlich erfahrbar zu machen, findet in der neuen, auf molekularbiologischer ebene des lebens fundierten ganzheit ihren naturästhetischen nachhall. der bedeutung des kunstwerks in form der oper für wagner entspricht heute das naturwerk in form des lebensvollzugs. so lässt sich das molekularbiologische lebenswerk auch als gesamtkunstwerkliche partitur lesen, wenn es in der beschreibung des lebensprozesses aus genetischer sicht dazu heißt: „um einen harmonischen (!) lebensprozess zu garantieren, dürfen aber nicht alle gene gleichzeitig zum ausdruck kommen. vielmehr muss jedes gen zur richtigen zeit, am richtigen ort und in der richtigen dosierung gelesen werden. […] als kontrolle all dieser abläufe dienen regelsignale, bei denen es sich um teile der erbschrift handelt, und die wie die effektiv zum ausdruck kommenden zentralen teile der gene ebenfalls durch spezifische abfolgen der buchstaben der DNA bestimmt sind. (verkürztes zitat nach arber werner, nobelpreisträger für medizin, gentechnik, gen-welten, vevey 1998.)
prägnanter könnte eine künstlerische, orchestrale performance, ein kunstwerk nicht beschrieben werden. setzt man voraus, dass das lesen der erbschrift mit dem lesen und interpretieren einer großen künstlerischen partitur gleichzusetzen ist, dann entspricht einem „harmonischen, molekularbiologischen lebensprozess“ das „ganzheitliche erleben des kunstwerks als ein informationeller prozess“, dann entspricht „der richtigen zeit und dem richtigen ort“ die raumzeitliche strukturiertheit großer kunst, dann entspricht der „richtigen dosierung“ die latente erwartung des unerwarteten durch kunst, dann entsprechen „regelsignale“ den fest gefügten übereinkünften zur übertragung von informationen in der kommunikation zwischen autor, interpret, akteuren und publikum.
vorausblick: das große programm der informationsmoderne, das wir ästhetisch und politisch kaum wahrgenommen haben, ist die symbiose unserer inneren prädisposition unter den bedingungen der äußeren natur. seine programmierung gleicht fortan der kunst, das eigene leben zu lesen und zu schreiben. damit werden wir dann beides, sowohl das genom als auch die bibel, lesen können müssen, um zu erkennen, dass wissenschaft ohne kunst keinen sinn mehr macht und kunst ohne wissenschaft nur unsinn.
univ.-prof. mag. richard kriesche
Information
7 September 2006
to 4 October 2006