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Zwei Alabasterstatuetten der Kunstkammer.

Restaurierung und kunsthistorischer Hintergrund

In der Kunstkammer Wien gibt es zwei reizvolle Alabaster­statuetten aus dem 16. Jahrhundert, über die wir im Grunde nichts wissen: Leda mit dem Schwan und ihr Gegenstück Ganymed mit dem Adler. Nach Stil und Komposition gehören sie zusammen. Ihre Ent­stehung ist jedoch nicht dokumen­tiert, und ihre Provenien­zen sind nicht bis auf den Ursprung zurückzuverfolgen. Sie fanden auf sehr unterschiedlichen Wegen ins Kunsthistorische Museum. Aus diesem Grund waren sie auch lange Zeit nicht zusammen ausgestellt. Obendrein war Ganymed mit dem Adler zuletzt konservatorisch sehr schlecht erhalten. Die Statuette wurde nun in der Restaurierungs­werkstatt der Kunstkammer aufwendig bearbeitet, und ihr Zustand erfolgreich saniert. Von Oktober 2022 bis Jänner 2023 können jetzt beide Statuetten im Saal 33 der Kunst­kammer neben­einander aus­gestellt werden.

Leda mit dem Schwan
Florenz, um 1540
Alabaster
KK 4382
Ganymed mit dem Adler
Florenz, um 1540
Alabaster
KK 7494

FORSCHUNGSBERICHT ZUR RESTAURIERUNG

»Konservierung und Restaurierung der Alabasterstatuette ‚Ganymed und der Adler‘, KK 7494«
Teresa Lamers

Das Objekt befand sich vor den Eingriffen in einem sehr schlechten Zustand. Aus zahlreichen Brüchen und den darauf folgenden Reparaturmaßnahmen in der Vergangenheit ergaben sich eine Gefährdung des Bestandes der Statuette sowie ein ästhetisch nicht ansprechendes Erscheinungsbild für die Museumsbesucher.

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© Kunsthistorisches Museum Wien
© Kunsthistorisches Museum Wien

Die Figur ist aus einem hellen Alabaster gearbeitet, der eine leichte rötliche Tönung und einige wenige dunkle Adern aufweist. Auf Grund seiner Eigenschaften ist Alabaster ein sehr sensibles Material. Es handelt sich um eine feinkristalline Varietät von Gipsgestein, die seit der Antike wegen ihres feinen Glanzes und der transluzenten Erscheinung geschätzt und für Bildwerke verwendet wird. Im Gegensatz zum optisch ähnlichen Marmor ist Alabaster sehr weich und kann sogar mit dem Fingernagel eingeritzt werden. Eine weitere Eigenschaft des Steines, die sich auf die Konservierung von Alabasterobjekten auswirkt, ist die Empfindlichkeit gegenüber Wasser. Wie Gips ist Alabaster wasserlöslich, wodurch Reinigungsmaßnahmen oder die Aufbewahrung bei hoher Luftfeuchtigkeit zu Schäden führen können.

Aus diesen Materialeigenschaften ergeben sich die für Alabaster üblichen Schadensbilder wie Kratzer oder eine ausgewaschene Oberfläche, die auch an der Figur des Ganymed zu sehen sind. Weitere Schäden an dem Objekt können auf mechanische Belastungen zurückgeführt werden, z.B. Anstoßen, Umfallen oder sogar Stürzen der Figur. Als Reaktion darauf kam es in der Vergangenheit zu mehreren Reparaturphasen, die nach dem heutigen Verständnis ebenfalls zu Schäden geführt haben.

Bevor konservatorische oder restauratorische Maßnahmen an einem Objekt durchgeführt werden können, ist eine umfassende Untersuchung und Dokumentation des Bestandes und Zustandes notwendig. Einige der vorhandenen Schadensbilder sind hier an Hand einer Kartierung dargestellt und werden in den folgenden Bildern und Texten genauer erklärt.

Die Oberfläche der Figur ist gezeichnet von Verunreinigungen, Kratzern und degradierten Bereichen, in denen es durch den Kontakt mit Feuchtigkeit zu einer Lösung von Alabasterkristallen aus dem Steingefüge kam.

© Kunsthistorisches Museum Wien

Risse an der Figur – auf der Schadenskartierung orange hervorgehoben – können teilweise auf natürliche Trennflächen im Stein zurückgeführt werden. Andere Ursachen für Rissbildung können Spannungen sein, die aus früheren Reparaturen hervorgegangen sind. Verfärbungen entlang der Risse sind wahrscheinlich bei früheren Festigungsversuchen entstanden.

Man geht von mindestens vier zurückliegenden Restaurierungs­phasen aus. Auf Grund von Einträgen in den Restaurierungs­büchern und alten Photographien kann angenommen werden, dass alle Eingriffe, bei denen verklebt und gekittet wurde, mit hoher Wahrscheinlichkeit vor 1900 stattgefunden haben. 

© Kunsthistorisches Museum Wien

Insgesamt 19 Bruch­stücke werden im aktuellen Zustand durch Klebungen und Armierun­gen zusammen­­gehalten. Bei Unter­­suchungen mittels Gaschro­mato­graphie-Massen­­spektro­skopie (GC/MS, ein analytisches Verfahren zur Bestim­mung von organischen Verbindungen) konnte Kolo­­phonium (ein aus der Destillation von Baumharz gewonnenes Material) identifiziert werden, das in manchen Bereichen für die Verklebung der Bruch­­stücke verwendet wurde. Die ent­standenen Fehl­­stellen und Bruch­kanten wurden anschließend mit verschiedenen Kitt­­massen gefüllt.

Die zahlreichen Brüche und Fehlstellen lassen sich auf mindestens drei große Schadensfälle zurückführen. Das Ausmaß dieser Schadensbilder ist in der Schadenskartierung ablesbar. 

Mehrere Schadensbilder lassen sich auf die alten Klebungen und Kittungen zurückführen. Einige Bereiche der Alabasterfigur wurden nicht passgenau verklebt, woraus sich eine optische Störung des Erscheinungsbildes ergibt. In anderen Bereichen wiederum wurden die Bruchkanten nach der Klebung augenscheinlich überschliffen, was Materialverlust und die Veränderung der Originaloberfläche verursacht.

An der Figur sind auch sieben sogenannte Vierungen zu sehen. Dabei handelt es sich um Fehlstellen, die mit Naturstein ergänzt wurden. Bei einigen der eingesetzten Alabasterstücke kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie zum herstellungszeitlichen Bestand der Figur gehören und verwendet wurden, um natürliche Fehler im Stein auszubessern. Besonders die runden beziehungsweise ovalen Vierungen, aber auch das Auge des Adlers, wo kein nachvollziehbarer Schaden vorausgegangen ist, könnten bereits bei der Herstellung der Figur eingesetzt worden sein. Andere Natursteinergänzungen sind wiederum mit hoher Wahrscheinlichkeit auf frühe Reparaturen der Figur zurückzuführen. Ein Beispiel für solch einen Eingriff befindet sich im Bereich des Schnabels. Sowohl der obere als auch der untere Schnabelteil fehlen. Während der untere Teil mit Kittmasse ergänzt wurde, wurde für den oberen Teil ein Stück Alabaster verwendet und in Form geschnitzt.

© Reitschuler H., Kunsthistorisches Museum Wien

Zusätzlich zu den Klebungen waren einige der gebrochenen Bereiche mittels Armierungen stabilisiert. Um die in den Stein eingebohrten Armierungen sichtbar zu machen, wurde eine Röntgenuntersuchung durchgeführt. Mit Unterstützung der Erkenntnisse aus den optischen Untersuchungen ließen sich drei verschiedene Armierungsmaterialien unterscheiden, die in Form einer Kartierung dargestellt werden können. 

Die meisten Armierungen sind aus Eisen. Neben den klassischen Armierungen, die komplett im Stein verschwinden, wurde im dünneren Bereich, wo der Vogelschweif in den Felsen übergeht, mit einer offen liegenden Klammer und Drähten gearbeitet. Zwei Armierungen sind aus Holz. Auf den Röntgenbildern lassen sich diese Holzstifte gut von den metallenen unterscheiden, da sich das Holz auf den Aufnahmen kaum abzeichnet. Ein drittes Armierungsmaterial befindet sich im Bereich der Bodenplatte beziehungsweise von Ganymeds Füßen. Die hier verwendeten Messingstäbe unterscheiden sich im Röntgen von den korrodierten Eisenstäben durch klare, gerade Kanten. Es ist wahrscheinlich, dass es sich dabei um die jüngsten Armierungen am Objekt handelt, die unabhängig von den anderen eingesetzt wurden und dementsprechend auf einen anderen Schadensfall zurückzuführen sind. 

Das Einsetzen der Armierungen war ein massiver Eingriff, der in jedem Fall mit Materialverlust einherging, da Originalsubstanz angebohrt werden musste. Aus den Armierungen, die an der Figur des Ganymed angebracht wurden, lassen sich zudem mehrere Schadensbilder wie Risse, Brüche oder Fehlstellen ableiten. Besonders die aus Eisen gefertigten Armierungen haben wegen materialbedingter Korrosionsprozesse ein großes Schadenspotential. Optisch können diese Veränderungen durch Verfärbung im Stein erkannt werden. Da die Korrosion des Eisens mit einer Volumenszunahme einhergeht, besteht die Gefahr von Spannungen im weichen Alabastergefüge, und in weiterer Folge kann es sogar zu neuen Rissen oder Brüchen kommen. 

Die gesamte Oberfläche war mit Rückständen eines gelblichen Überzuges bedeckt, der ebenfalls aus einer zurückliegenden Bearbeitungsphase des Objektes stammt. Daraus ergaben sich ein fleckiges und verfälschtes Erscheinungsbild sowie die Gefahr, dass durch die Präsenz unbekannter Materialien chemisch-physikalische Prozesse im Alabaster ausgelöst werden könnten. 

© Pitthard V., Kunsthistorisches Museum Wien

Eine Untersuchung der Rückstände mittels Gaschromatographie-Massenspektroskopie (GC/MS) hat gezeigt, dass für den Überzug wahrscheinlich ein Gemisch aus Bienenwachs und einem trocknenden Öl mit Spuren von Harz (Kolophonium) verwendet wurde. 

Weitere Erkenntnisse zum Bestand und Zustand der Figur konnten durch eine Betrachtung im UV-Licht gewonnen werden. Die Rückstände des organischen Überzugs sowie die verschiedenen Kittmassen lumineszieren in verschiedenen Farbtönen. In den Bereichen, wo sich Eisenstäbe befinden, erscheint der sonst hell leuchtende Alabaster schwarz. Dieses Phänomen lässt sich durch das Eindringen von Eisenmolekülen in das poröse Steingefüge erklären.

Auf den Erkenntnissen der optischen und analytischen Untersuchungen basierend, wurde ein Konzept für die notwendigen konservatorischen und restauratorischen Maßnahmen entwickelt und umgesetzt. Die Arbeiten an der Figur haben zirka ein halbes Jahr in Anspruch genommen.

Als eine der ersten Konservierungsmaßnahmen wurden die Überzugsrückstände weitgehend abgenommen. Der durch ein angepasstes Lösemittelgemisch und den Einsatz von Kompressensystemen erzielte Reinigungserfolg wird im Vorher-Nachher-Vergleich im UV-Licht besonders deutlich.

Auf Grund der von den Korrosions­prozessen des Eisens ausgehenden Gefährdung für das Objekt mussten Klebungen geöffnet und Armierun­gen gelöst werden. Die Eisen­stäbe wurden vorsichtig mit kleinen Säge­blatt­stücken durchtrennt. 

Die alten Kittmassen, Klebstoffe sowie Eisen­armierun­gen wurden so weit wie möglich vom Objekt abgenommen. Jedem Eingriff an einer Bruchstelle beziehungs­weise Armierung ging eine Abwägung des bestehenden Schadens­potentials und der mit der Maßnahme einher­gehenden Gefährdung voraus. Daher sind auch mehrere Klebungen und Armierungen am Objekt belassen worden. 

Die Bruchstücke wurden anschließend mit einem synthetischen Klebstoff, der den modernen konservierungs­wissenschaftlichen Anforderungen entspricht, erneut miteinander verklebt.

Um ein geschlossenes Erscheinungsbild für die Betrachter zu generieren, wurde entschieden, einige der Fehlstellen zu ergänzen. Da sich durch den Alabaster mehrere Anforderungen an das Material und die Methode des Ergänzens ergaben, musste die am besten geeignete Rezeptur in einer Testreihe ermittelt werden. Zu diesen Anforderungen gehört eine ähnliche Farbe und Transparenz wie Alabaster sowie die Reversibilität der Maßnahme und eine gute Alterungsbeständigkeit der eingesetzten Materialien.

Für jede Fehlstelle wurde eine Negativform aus Silikon gefertigt, um aus der in der Testreihe entwickelten Gießmasse die benötigten Ergänzungen herstellen zu können.

Die separat gegossenen Ergänzungen wurden nach der Aushärtung an die jeweilige Fehlstelle angepasst und anschließend eingeklebt und retuschiert. 

Auf der Kartierung können alle im Zuge der Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten angefertigten Klebungen und Ergänzungen abgelesen werden. 

Vergleich des Zustandes vor (links) und nach (rechts) der Konservierung und Restaurierung:

Nach den Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen befindet sich die Statuette in einem gesicherten Zustand. Durch die Entfernung von alten Reparaturmaterialien konnte die bestehende Gefährdung des Alabasters reduziert werden. Die Abnahme von Kittmassen und Armierungen sowie die Neuverklebung von Bruchstücken haben zu einer Beruhigung der Oberfläche geführt. Das Schließen von Fehlstellen mittels neuer Ergänzungen ergab ein ästhetisch ansprechendes Erscheinungsbild, das dem herstellungszeitlichen Zustand der Figur ähnlich sein soll und den Museumsbesuchern ermöglicht, das Objekt wieder sehen und erfassen zu können. 


KUNSTHISTORISCHER HINTERGRUND

»Leda und Ganymed, die Geliebten des Zeus«
Konrad Schlegel

Zeus verwandelte sich in einen Schwan, um Leda, die Königin von Sparta, zum Liebesakt zu verführen. Aber um den hübschen trojanischen Königs­sohn und Hirten­knaben Ganymed zu sich auf den Olymp zu entführen, wo er ihn zum Mund­schenk der Götter ernannte und ihm die Unsterblichkeit verlieh, nahm er die Gestalt eines Adlers an. Leda und Ganymed, diese beiden Geliebten des Zeus, wurden sowohl in der Kunst des Altertums, als auch in der frühen Neuzeit manches Mal zusammen dargestellt. Auf antiken römischen Sarkophagen sind sie nebeneinander zu finden.1

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Etwa zeitgleich mit unseren beiden Alabasterstatuetten widmeten sich Correggio und Benvenuto Cellini diesen beiden Themen. Correggio malte um 1530 seine berühmte Serie von vier Gemälden für Federico Gonzaga, den Herzog von Mantua. Alle vier zeigen Liebesgeschichten Zeus'/Jupiters – Ganymed mit dem Adler (das Bild befindet sich heute in der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien) und Leda mit dem Schwan (Berlin, Staatliche Museen), sowie Danae mit dem Goldregen (Rom, Galleria Borghese) und Jupiter und Io (ebenfalls in der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums Wien). Cellini stellte um 1540 Leda und Ganymed am Sockel seines heute verlorenen silbernen Leuchters in Gestalt Jupiters dar, den er für den König von Frankreich schuf.2
Ebenso gehören die beiden hier vorgestellten Alabasterskulpturen nach Komposition und Stil ganz eindeutig zusammen. Bereits Leo Planiscig, der bislang als einziger über diese Ganymedskulptur schrieb, erkannte die beiden Objekte als Gegenstücke.3 Da sie aber auf sehr unterschiedlichem Weg ins Kunsthistorische Museum fanden, wurden sie nie zusammen ausgestellt.
Nachdem nun die Werkstatt für Restaurierung der Kunstkammer Wien sich des Ganymeds angenommen hat (siehe den Beitrag von Teresa Lamers), sollen sie hier zum wahrscheinlich allerersten Mal, mindestens aber seit sehr, sehr langer Zeit, nebeneinander gezeigt und in Beziehung gesetzt werden.

Die Ähnlichkeiten fallen leicht ins Auge. Beide Male ist die Paarung Mensch und Vogel gegengleich jeweils so komponiert, dass die kleinere Figur des Tieres auf einem mit Pflanzen bewachsenen Felsensockel (auf dem Sockel des Adlers kriechen außerdem eine Schlange und eine Eidechse) zu stehen hat, um mit der größeren menschlichen Gestalt halbwegs auf Augenhöhe einen Dialog führen zu können. Berührungen und Blickrichtungen spielen dabei eine große Rolle für die subtile, differenzierte Schilderung der jeweiligen Liebesgeschichte. So wirkt das Paar aus Schwan und Frau äußerst zärtlich. Der Bildhauer fokussiert das gegenseitige Begehren beider Protagonisten und zeigt einen Moment erotischer Spannung. Denn noch sind die Berührungen zaghaft – nur mit Fingerspitzen betastet Leda ihr Gegenüber an Hals und Flügel; fast wie zufällig berührt seine Brust ihren Oberschenkel. Doch Ledas Blick trifft offen auf den des Schwans. Beide legen ihre Köpfe leicht schief, was in Verbindung mit dem direkten Blick körpersprachlich eine fragende Aufforderung suggeriert. Hier steht anscheinend die liebende Vereinigung kurz bevor. Im nächsten Moment, so dürfen wir uns wohl vorstellen, werden die Berührungen heftiger…
Um wie viel spröder erscheint hingegen das Gegenüber von Adler und Jüngling, von Zeus und Ganymed. Man muss Planiscig nicht Recht geben, der fand, der Adler würde den Knaben packen und schlagen. Man könnte die Art und Weise, wie der mächtige Vogel seinen Flügel auf den Rücken des Jünglings legt und sein Bein auf dessen Schenkel, auch als väterlich oder zumindest freundschaftlich interpretieren. Doch der strenge Blick des „Königs der Lüfte“ auf seinen jungen Freund wirkt tatsächlich wie der eines Oberlehrers auf einen nur halbwegs gelehrigen Schüler. Dieser scheint innerlich zu widerstreben: Auch wenn sein Körper eigentlich im gelassenen Kontrapost wiedergegeben ist, sieht seine Haltung steif, unnatürlich und unbequem aus. Dieser Eindruck wird vor allem durch die eckige Stellung seines auffällig angehobenen rechten Armes hervorgerufen. Dadurch wirkt die Berührung seiner Hand am Hals des Vogels eher unwillig. Auch hier legen beide Protagonisten ihre Köpfe leicht schief, doch scheinen sich ihre Blicke nicht zu treffen. Die Miene des Jünglings wirkt eher so, als wolle er dem Tier ausweichen. Da Ganymeds Augen allerdings ohne Pupillen gestaltet sind, lässt sich seine Blickrichtung kaum festlegen; vielleicht wirft er dem Adler auch einen – dann sehr skeptischen – Blick von der Seite zu. Der halbgeöffnete Mund mit den wulstigen Lippen verleiht dem Gesicht des Jungen vollends einen enervierten Ausdruck. Zwar hält er in der linken Hand Früchte zur Fütterung für den Vogel bereit, doch wohlzufühlen scheint sich dieser Ganymed nicht. Trotz der körperlichen Attraktivität der Jünglingsgestalt ist von Erotik hier wenig zu spüren. Die wird im Übrigen auch in der ursprünglichen Version der Sage (Homer, Ilias) nicht ausgesprochen. Sie scheint erst in nachhomerischen Schilderungen dem Mythos beigefügt worden zu sein.4 Ob dies dem Künstler unserer Alabasterstatuette bewusst und bekannt war, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls gelang es ihm durch das verkrampfte Nebeneinander der Figuren deutlich zu machen, dass Ganymed sich nicht freiwillig zum Olymp entführen ließ. Scheint Zeus in der alabasternen Leda-Gruppe kurz vor dem Ziel des Liebhabers zu stehen, so muss er hier bei Ganymed wohl noch einiges an Überzeugungsarbeit leisten.
Die beiden Figurengruppen ähneln einander stilistisch. Zunächst fällt auf, dass das Gefieder der beiden Vögel auf gleiche Weise gestaltet ist. Wie Schuppen liegen einzelne, längliche Federbündel in Reihen großzügig neben- und übereinander. Auffällig ist allerdings, dass beim Schwan nur an den Flügeln und Beinen Federn dargestellt sind. Leib und Hals hingegen sind glatt belassen und somit in der Oberfläche dem Körper der Leda angeglichen. Die Körper der beiden menschlichen Figuren sind ausgesprochen weich gestaltet. Ledas Arme und Beine wirken im Vergleich zum Rest des Körpers, schwer und stämmig massiv, aber weich. Oberschenkel, Hüfte, Brust und Arme fast teigig. Weit schiebt sich die Hüfte nach rechts in den Raum. Ebenso Ganymed. Seine Brust erscheint beinahe mädchenhaft weich. Seine Rumpfmuskulatur ist nur an wenigen Stellen sanft angedeutet. Die Gesichter der beiden menschlichen Figuren gleichen einander in der Gestaltung der in den Winkeln spitz zulaufenden, großen Augen mit stark hervorgehobenen Ober- und Unterlidern. Planiscig schrieb die Ganymed-Gruppe einem „Florentiner in der Richtung des Sansovino zwischen 1530 und 1540“5 zu, was hier grundsätzlich bestätigt werden soll. So gestaltete Jacopo Sansovino selbst den Sockel seines Johannes des Täufers in Santa Maria dei Frari in Venedig (1534) als von Pflanzen überwucherten Felsen, und auch das verträumte Gesicht des Täufers mit den spitz geformten Augen und den wulstigen Lippen könnte für den Künstler unserer beiden Gruppen vorbildhaft gewirkt haben. Die Wahl des Materials Alabaster lässt hinsichtlich des Entstehungsorts jedoch eher an die Toskana als an Venedig denken.
Aber sind diese beiden Statuetten echte Pendants, die geschaffen wurden, um nebeneinander zu stehen? Oder entsprechen sie nur unabhängig voneinander einem Schema, das in einer Werkstatt erfolgreich wiederholt wurde? Die gegengleiche Ausrichtung von Mensch und Tier – der Schwan steht an Ledas rechter Seite, der Adler an Ganymeds linker – lässt eher auf ersteres schließen, doch ergibt die Recherche in den Inventaren hier keinen Zusammenhang. Falls sie zusammengehören, wurden sie offenbar früh getrennt. Die Statuette der Leda mit dem Schwan ist erstmals im Inventar der Kunstkammer Erzherzog Leopold Wilhelms von 1659 dokumentiert: „No. 115. Ein nackhendte Leda gantzer Postur von weissen Marmel, welche mit beeden Händten ein Schwanen halt. Antico. Hoch 2 Span genaw.“6 An der sicheren Identifizierung dieses Inventareintrags mit dem Objekt KK 4382 kann kein Zweifel bestehen. Die Beschreibung, dass Leda mit beiden Händen den Schwan hält, trifft genauso zu wie die angegebene Höhe „2 Span“ – ein Span entspricht 20,8 cm; unsere Alabasterstatuette hat die Höhe von 43 cm. Die Materialangabe „Marmel“, also Marmor, mag nur im ersten Moment überraschen – in alten Inventaren wurde Alabaster oft mit Marmor verwechselt bzw. gleichgesetzt. Die Bezeichnung „Antico“ wird im Inventar von 1659 immer dann verwendet, wenn es sich nicht um zeitgenössische Werke („Moderno“) handelt.
Erzherzog Leopold Wilhelm, von 1647 bis 1656 Statthalter der Spanischen Niederlande, erwarb einige seiner Gemälde und Statuetten aus England, als der Kunstbesitz des in Folge des Englischen Bürgerkrieges enthaupteten Königs von England, Karls I., 1649 in Antwerpen versteigert wurde. Karl I. hatte aber seinerseits 1628 Sammlungsbestände der Gonzaga aus Mantua erworben. Einige der Statuetten in der Kunstkammer Erzherzog Leopold Wilhelms lassen sich tatsächlich in diesen Mantuaner Beständen nachweisen.7 Daher wurde angenommen, unsere Leda stamme letztlich von dort – denn im Nachlassinventar der großen mantuanischen Sammlerin und Mäzenatin Markgräfin Isabella d’Este lassen sich sogar zwei Leda-Statuetten aus Marmor nachweisen, die auf den Gesimsen ihrer Grotta aufgestellt waren.8 Letztlich sind diese Beschreibungen aber ungenau, und eine Identifizierung mit unserer Statuette kann nur mit großem Fragezeichen erfolgen. Sollte unsere Alabasterstatuette tatsächlich von dort stammen, so stand sie allerdings ohne Ganymed in der Grotta der Markgräfin von Mantua, denn ein Ganymed ist im Inventar von 1540–1542 nicht verzeichnet. Sollten unsere beiden Statuetten also tatsächlich eine Paarung im Sinne auf einander hin komponierter Gegenstücke sein, so waren sie zu diesem frühen Zeitpunkt ihrer Geschichte bereits getrennt. Die Annahme einer anderen frühen Provenienz vor der Dokumentation im Inventar Leopold Wilhelms von 1659 erscheint daher plausibler, kann allerdings beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht nachgewiesen werden. Die Ganymed-Gruppe fand erst rund 200 Jahre später nach Wien und hatte einen ganz anderen Weg genommen – tatsächlich aus Oberitalien. Sie kam mit der Estensischen Sammlung 1896 aus Catajo nach Wien und wurde erst 1923 ins Inventar des Kunsthistorischen Museums übernommen. Eine frühere Provenienz, vor 1896, lässt sich derzeit nicht rekonstruieren.
Spätestens seit 1659 sind die beiden Statuetten also getrennt, obwohl sie in Material, Stil und Komposition eindeutig zusammengehören. Alle wichtigen Fragen rund um ihre Entstehung müssen letztlich offenbleiben. Aber mit ihrer gemeinsamen Präsentation in der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums Wien sind sie heute erstmals (wieder?) vereint.

1 Lippold 1954, passim.
2 Schaeffer 1924, 292.
3 Planiscig 1919, Nr. 123, 81.
4 Sichtermann 1953, Fußnote 21, 16.
5 Planiscig 1919, Nr. 123, 81.
6 Inventarium 1659 (Berger 1883), CLXIX.
7 So der Schreitende Jüngling, KK 62003, und einige der Statuetten Anticos, die heute in der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums verwahrt werden – vgl. Leithe-Jasper 1986, 78.
8 Ferrari 2003, 347, Nrn. 7273 und 7277. Als erster hatte Hermann 1909/1910, 216, Anm. 2, diese Inventareinträge mit KK 4382 in Verbindung gebracht. Ihm folgte Brown 1976, 327.

Literatur

Brown 1976
Clifford M. Brown, Lo insaciabile desiderio nostro de cose antique: New Documents on Isabella d’Este’s Collection of Antiquities, in: Cultural Aspects of the Italian Renaissance. Essays in Honour of Paul Oskar Kristeller, Manchester 1976, 324-253

Ferrari 2003
Daniela Ferrari, Le Collezioni Gonzaga. L’Inventario dei Beni del 1540–1542, Mailand 2003

Hermann 1909/1910
Hermann Julius Hermann, Pier Jacopo Alari Bonacolsi, genannt Antico, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. 28, 1909/1910, 201-288

Inventarium 1659 (Berger 1883)
Inventarium aller vnndt jeder Ihrer hochfürstlichen Durchleücht Herrn Herrn Leopoldt Wilhelmen Ertzherzogen zue Österreich, Burgundt etc. zu Wienn vorhandenen Malhereyen, Zaichnungen, Handtrüesz, item der stainenen vnndt metallenen Statuen und anderen Figuren […], hg. von Adolf von Berger, Inventar der Kunstsammlung des Erzherzogs Leopold Wilhelm von Österreich. Nach der Originalhandschrift im fürstlich Schwarzenberg’schen Centralarchive, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. I, Teil II, 1883, LXXIX-CLXXVII

Leithe-Jasper 1986
Manfred Leithe-Jasper, Renaissance Master Bronzes from the Collections of the Kunsthistorisches Museum Vienna, Washington DC 1986

Lippold 1954
Georg Lippold, Leda und Ganymedes, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Heft 3, 1954

Planiscig 1919
Leo Planiscig, Die Estensische Kunstsammlung. Band 1. Skulpturen und Plastiken des Mittelalters und der Renaissance, Wien 1919

Schaeffer 1924
Emil Schaeffer (Hg.), Leben des Benvenuto Cellini von ihm selbst geschrieben. Übersetzt von Goethe, Frankfurt am Main 1924

Sichtermann 1953
Hellmut Sichtermann, Ganymed. Mythos und Gestalt in der antiken Kunst, Berlin 1953

Information

Projektleitung
Konrad Schlegel

Projektmitarbeit
Teresa Lamers

Finanzierung
Kunsthistorisches Museum Wien

Projektlaufzeit
2020-2022

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