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Marco Basaiti: Die Berufung der Söhne des Zebedäus. Interpretation

 

Der rückschauende Kopf: Basaitis Berufung der Söhne des Zebedäus und Platons Kugelmenschenmythos

Karin Zeleny

 

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Abstract

In Marco Basaitis Gemälde Berufung der Söhne des Zebedäus (Wien, Kunsthistorisches Museum, Öl auf Pappelholz, signiert, datiert 1515) finden sich an einem um die zentrale Evangelienszene gemalten Architekturrahmen zwei nur in Weiß und Grau als Grisaillen ausgeführte männliche Aktfiguren. Auffällig ist dabei der anscheinend verkehrt aufgesetzte Kopf des linken Grisaillemannes, der einen Hinweis auf Platons Kugelmenschenmythos im Symposion liefert (siehe die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und die ausführliche Argumentation im verlinkten Beitrag). Dieser antike und in der Renaissance jedem humanistisch Gebildeten bekannte literarische Mythos erklärt den Ursprung der Liebe und charakterisiert insbesondere die homosexuellen Männer als die edelsten und mannhaftesten. Hier liegt das Problem: Als das Gemälde entstand, war im Gegensatz zur Antike Homosexualität verboten, weil sie als Sünde galt, und wurde strafrechtlich verfolgt.

Wer die Idee zu Basaitis Bild hatte, dessen Konzept entwickelte und den platonischen Mythos – und damit wissentlich auch die Assoziation mit dem Lobpreis der Homosexualität – mit der biblischen Jüngerberufung verband, ist derzeit unbekannt. Aber das Thema, das den Bilderfinder wohl bewegte, wird aus dieser nur für Humanisten dechiffrierbaren Verbindung ersichtlich: die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe.

Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

Die Identifizierung der bisher rätselhaften Grisaillegestalten am gemalten Architekturrahmen der inhaltlich sonst evangelienkonformen Darstellung der Berufungsszene führt zu einer umfassenden Neuinterpretation des über 500 Jahre alten Gemäldes. Der linke Grisaillemann mit seinem anscheinend verkehrt aufgesetzten Kopf verweist auf Platons Kugelmenschenmythos im Symposion, worin die ursprünglichen Menschen als Doppelwesen mit zwei januskopfartig in entgegengesetzte Richtung blickenden Gesichtern, vier Armen und vier Beinen auftreten und von Zeus als Strafe für ihre Aufmüpfigkeit in je zwei Halblinge zerschnitten werden, die daraufhin in sehnlicher Verzweiflung wieder zueinanderfinden wollen. Bevor die Menschen nach dieser Trennung ihre endgültige Gestalt erhalten und Gesicht sowie Genitalien bauchwärts gedreht werden, gibt es diesem Mythos zufolge eine Zwischenphase, in der sie rückwärts schauen. Im Beitrag wird in schrittweiser Argumentation, die sich auf antike, biblische und humanistische Quellen stützt (alle sind auch in deutscher Übersetzung zitiert), die Identität des linken Grisaillemannes deutlich: Er ist ein frisch von seiner Gegenhälfte getrennter Doppelmannhalbling, noch mit rückschauendem Gesicht. Beim rechten Grisaillemann hingegen, dessen Anatomie völlig normal scheint, ist die Operation zum modernen Menschen bereits gelungen.

Aus dieser Identifizierung ergibt sich die Interpretation. In Platons literarischem Mythos wird auf diese Zerteilung der Kugelmenschen und die daraus resultierende Sehnsucht nach dem verlorenen Partner der Ursprung der Liebe und des sexuellen Begehrens zurückgeführt – im Fall von getrennten Doppelmännern: des homosexuellen Begehrens, das edler und mannhafter sei als das heterosexuelle. Da in sonst farbenreiche Gemälde eingebaute Grisaillen üblicherweise dazu dienen, der Hauptszene eine weitere und vertiefende Verständnisebene hinzuzufügen, gilt es nun, die innere thematische Verbindung zwischen Berufungsmythos und Kugelmenschenmythos zu fokussieren, die offenbar im Motiv der liebevollen Anziehung zwischen den Protagonisten liegt. In beiden Mythen geht es ja um Aufhebung des Getrenntseins und Zusammenkommen: Im Zentrum des Gemäldes erwählt Jesus seine Jünger und beruft sie in seinen engsten Kreis, um hinfort mit ihnen zusammenzuleben – hierbei ist speziell Johannes interessant, der im Johannesevangelium stets als „der Jünger, den Jesus liebte“ bezeichnet wird –, während außen am Architekturrahmen der linke Doppelmannhalbling nach seinem geliebten Partner ruft und der rechte seine neue Leiblichkeit entdeckt und sichtlich goutiert, mit der er Platon zufolge seine Sehnsucht temporär auf sexuellem Wege stillen wird können.

Warum wollte der Bilderfinder just einen Hinweis auf Platons Doppelmänner für ein vertiefendes Verständnis der Jüngerberufung heranziehen? In beiden Mythen wird die Anziehung unter Männern zelebriert, wobei im Gegensatz zu den Evangelien im Symposion der Eros offen seine Wirkung entfaltet. Die in Basaitis Gemälde vereinte Darstellung als chiffrierte, weil skandalöse These zu interpretieren, Jesus habe mit Johannes in einer homoerotischen Partnerschaft gelebt, wäre zwar möglich, aber wohl zu kurz gegriffen, denn Platons Symposion wurde am Beginn des 16. Jahrhunderts zusammen mit dem berühmten, 1484 veröffentlichten Kommentar De amore des Florentiner Gelehrten Marsilio Ficino gelesen, der Platons Mythos zum religiösen Drama umdeutet: Die beiden einander liebenden Halblinge sind darin nicht homosexuelle Männer wie im Symposion, sondern gemäß Ficinos christlichem Weltbild zwei Lichter, ein göttliches anziehendes und ein menschliches angezogenes, durch deren Vereinigung die vom Göttlichen getrennte Seele wieder heil und ganz wird. Diese Deutung entfernt sich zwar sehr weit von Platons Mythos, in dem die beiden einander anziehenden Halblinge ebenbürtig der Menschenwelt angehören, entspricht aber trefflich der nicht-ebenbürtigen Anziehung zwischen dem laut christlichem Mythos von einem Gott gezeugten Jesus und dem geliebten Menschen Johannes.

Die Verbindung dieser beiden Mythen in Basaitis Gemälde wird daher im Lichte von Ficinos eigenwilliger und inadäquater Platon-Interpretation zu verstehen sein: Im Spezialfall der Anziehung zwischen Jesus und seinem Lieblingsjünger Johannes ist Ficinos Umdeutung vertretbar. Diente das Gemälde also der postumen Verteidigung eines großen Gelehrten? Freilich ist die Gegenseitigkeit der Liebe zwischen dem Gottessohn Jesus und einzelnen Menschen schon Thema eines Logions im Johannesevangelium (14, 21): „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt. Wer mich aber liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden. Und ich werde ihn lieben und mich selbst ihm greifbar machen.“

Auch wenn diese literaturbasierte Erklärung der einzigartigen Darstellung plausibel ist, bleibt das brisante Thema der Homosexualität im Raum, das in Platons Doppelmännermythos ein zentrales Element ist und jedem Humanisten, der je den Originaltext gelesen hat und die Grisaillemänner damit assoziiert, bei Betrachtung des Bildes sofort in Erinnerung kommt.

Im Beitrag werden die essentiellen Faktoren untersucht, die im Rahmen des kulturellen Umfelds in Venedig am Beginn des 16. Jahrhunderts zum Verständnis des Gemäldes beitragen: die Bedeutung von Grisaillen, die Intoleranz gegenüber der Homosexualität, die humanistische Platon-Rezeption, der akademische Synkretismus und vier zu Basaitis Zeit für jeden Interessierten zugängliche literarische Interpretationen des Kugelmenschenmythos, in denen das Thema der Homosexualität allerdings tunlichst vermieden wird.

Ob Basaiti selbst die Idee zu seinem Gemälde hatte, ob er Platon und Ficino las, ist beim derzeitigen Forschungsstand zu Biographie und Ausbildung des Malers nicht zu beantworten. Wenn die Idee von einem Auftraggeber stammt, dann war dieser wohl ein vielleicht selbst homosexueller Humanist, der sich in sein privates Andachtsbild ein nobles und kostbares Manifest der neuplatonischen Gelehrsamkeit und der Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe malen ließ. Diese liberale Einstellung in Worten auszudrücken wäre in einer Zeit, in der Homosexualität als widernatürliches Laster galt und strafrechtlich verfolgt wurde, gefährlich gewesen. In einem der Interpretation bedürftigen, aber eine solche nicht erzwingenden Bildelement verborgen konnte das nonverbale Zeugnis hingegen unbehelligt Jahrhunderte überdauern.

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Zitiervorschlag

Karin Zeleny, Der rückschauende Kopf. Basaitis Berufung der Söhne des Zebedäus und Platons Kugelmenschenmythos, Online-Publikationen des Kunsthistorischen Museums Wien, Wien 2024, DOI: https://doi.org/10.60477/khm1-0063706


Schlagwörter

Jehuda ben Isaak Abravanel (Leone Ebreo), Aristophanes, Marco Basaiti, Pietro Bembo, Marcantonio Coccio Sabellico, Dante Alighieri, Mario Equicola, Marsilio Ficino, Giorgione, Giovanni da Cavino, Jesus, Johannes, Marco Antonio Passeri, Platon, Pomponius Laetus

Accademia Romana, Aedicula, Architekturrahmen, De amore, Die Drei Philosophen, Divina Commedia, Eros, Grisaille, Homosexualität, Humanismus, Inferno, Kugelmenschenmythos, Kunsthistorisches Museum Wien, Neuplatonismus, Pantheon, Renaissance, Symposion, Synkretismus, Venedig



Autorin

Karin Zeleny
Studium der Klassischen Philologie, Mittel- und Neulatein an der Universität Wien (Promotion 2005 „Itali modi: Akzentrhythmen in der lateinischen Dichtung der augusteischen Zeit“) und der Viola da gamba an der Musikhochschule Wien. Werkverträge an der Kommission für antike Literatur und lateinische Tradition der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Rezeption des antiken Mythos im Renaissance-Humanismus). Lektorin und Hausphilologin im Kunsthistorischen Museum Wien.

 

 

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